Die Märchen


Großvater Jim


 

Großvater Jim

 

Jim war gar nicht unser Großvater. Wir nannten ihn nur so. Er hatte nicht einmal Kinder. Er hatte nicht einmal geheiratet. Großvater Jim wohnte auf einer Anhöhe, die sich über einem Hochtal unserer schönen Anden befand. Zwei friedliche und zwei besonders im Frühjahr wilde Bäche flossen direkt über seine Weiden, bevor sie sich zum Rio Madre hinabstürzten. Auf den Wiesen hielt Jim sich Schafe und Ziegen. Großvater Jim war ganz gerne alleine. Oft genug kam eine alte Hirtin aus Lacun Bajo zu Besuch und sie brachte ihren irischen Wolfshund mit. So ein irischer Wolfshund ist ungefähr über einen Meter groß. Wenn er den Kopf hebt: Über Einmeter-dreißig.  Und er hat ein starkes Gebiss, dass er aber nur zum Fressen benötigt und niemals zum beißen. Das hat so ein Hund gar nicht nötig. Alle haben Angst, wenn er daherkommt. Obwohl  er so friedlich  und friedliebend ist. Und er hat so ein schönes graues Fell. Und er ist so warm.  Sarah hieß die alte Hirtin und jüdisch soll sie gewesen sein. Sie war die Tochter von Ruth, einer Einwanderin.

 

Sarah räumte immer gleich alles auf in Jims Hütte und  schimpfte furchtbar über die Unordnung, die sie dort vorfand. Aber, wenn Du mich fragst, es war immer alles ordentlich bei Jim zuhause. Wenn Sarah schimpfte, hörte Großvater Jim ihr kopfnickend zu und ergab sich in sein Schicksal. Zur Beruhigung zündete er sich seine große Pfeife an. Wir Kinder dachten immer, Sarah sei Jims Frau. Wir dachten, sie seien ein normales Ehepaar. Das war aber nicht so.

 

Oft kamen Kinder zu Besuch. Jim hatte immer etwas Leckeres in seiner Speisekammer. Ein paar getrocknete Beeren, geronnene Milch mit Zimtzucker, mit Ziegenbutter gebrannten Kandis  und natürlich Maiskuchen. Den machte Jim selber. Und keiner konnte ihn besser machen als Großvater Jim. An der Feuerstelle, wenn es Nacht wurde, erzählte er uns Geschichten. Und wir wussten nicht, waren es nun Geschichten, hatte Großvater Jim die Sachen selbst erlebt, oder waren es Märchen, die er sich ausgedacht hatte. Eigentlich, wenn ich ehrlich sein soll, dachten wir, es seien wahre Begebenheiten. Auch heute denke ich oft noch so. Man denkt halt als Erwachsener oft noch so wie ein Kind, wie man als Kind gedacht hat. Und als Kind ist man erwachsener, als Erwachsene es überhaupt für möglich halten.

 

Es kam zwei oder dreimal im Jahr vor, dass wir Kinder Jim besuchten. Schon am Abend vor der Abreise waren wir sehr aufgeregt und Mutter hatte alle Mühe, uns ins Bett zu bekommen. Weil sie wusste, wie unruhig wir waren, hatte sie uns einen Kräutertee gekocht, den wir im Bett trinken durften. Sonst durften wir nur in der Küche unseren Tee trinken. Auch Mutter kannte Jim und seine Geschichten. Damit wir schlafen konnten, erzählte sie uns manches Mal schon eine davon am Abend vor einem  Ausflug zu Großvater Jim.

 

An eine kann ich mich noch gut erinnern. Sie handelte von einer Frau und einem jungen Mann, der einmal ein Vogel gewesen war. Sicher seid ihr schon gespannt, sie zu hören.  Hier kommt sie für euch. Es ist ein Märchen aus Thailand.

 

 

 

Tasamui

 

Tasamui hörte eines Tages in der Ferne von den Bergen den leisen Schrei in einem Lachen. Sie wusste vom Weg durch die Reisfelder am langen schwarzen Fluss. Nach sieben Tagen kam sie zum Tal an den hohen Bergen. Dort stand ein großes, halb zerfallenes Haus. Der Putz war von den Steinen schon vor langer Zeit abgefallen. Türen und Fenster waren mit Brettern vernagelt. Bald wurden die Berge steiler. Felsen hingen über den schmalen Weg und verschütteten oft den Pfad.

Die Taube lag droben an der Kreuzung des Lebens bei der Quelle des Todes. Ein großer Felsstein  lag auf ihrem Flügel.

 Was ist dir geschehen“, fragte Tasamui. Die Taube antwortete: „Ich sammelte Blüten zum Trank für den letzten Schlaf. Die Blumen wachsen nur hier oben. Ich geriet in ein Unwetter und der Fels zerschlug mit den Flügel.“ Tasamui  konnte den Stein  nicht ein Stück weit bewegen. Da sprach die Taube: „Willst du mir helfen, so gehe zu  der Fee am Ende der Wüste und bringe mir das rote Herz.“

Tasamui machte sich auf den langen Weg durch die Sandwüste. Sie ging nur während der Nacht. Am Tag schlug sie  ihr Zelt in einem Dünental auf. In einer Oase mit einem halb vertrockneten Brunnen fand sie einen schönen, leuchtenden Stein und nahm ihn für sich mit. Am Ende der Wüste traf sie tatsächlich auf die Fee. Die hatte schon lange mit dem roten Herzen auf jemanden aus den Bergen gewartet.

„Der Stein und das Herz sollen dich begleiten“, sprach die Fee. „Sie sollen dir auch Glück bringen. Versprechen kann ich das dir aber nicht. Vertraue auch auf deine Kraft.“ Der Rückweg war nicht mehr schwer.

 

Bei der Taube angekommen, legte Tasamui das rote Herz und den schönen Stein zur Taube und küsste sie auf den Schnabel. Da verwandelte sich der Vogel  in einen großen jungen Mann mit heller brauner Haut und schönem langen schwarzen Haar.

Der stemmte sich mit aller Kraft gegen den Fels auf seinem Bein. Der bewegte sich bald und rollte dann heftig zu Tal. Dabei begann er, rot zu glühen. Er schlug ein in die vernagelte Tür des verfallenen Hauses, das sich sogleich in ein weißes Schloss verwandelte.

Tasamui und der junge Mann gingen ins Tal hinab und bestaunten das schöne Haus.  Sie beschlossen, dort eine Zeit miteinender zu wohnen. Es gab darin alles, was sie sich wünschten. Süße Milch und wilden Reis. Und Musik, die sie noch nie gehört hatten.

Tasamui brachte Kräuter des Erinnerns und des Vergessens. Es kamen  viele Tiere und auch alle Nachbarn aus den Tälern. Der junge Mann malte Bilder und Tasamui hängte sie an die weißen Wände. Oft erzählte sie ihm von den Menschen und er erzählte ihr von den Tauben.

 

Eines Tages, als das Bein des Mannes wieder ganz genesen war, sagte er zu ihr: „Ich will jetzt wieder Blüten sammeln.“ Er nahm sich das, was er noch brauchte: Ein Schild für sein Herz, Pfeil und Bogen für seine Zunge, eine Träne für sein Auge und einen Falken für seinen Arm. Tasamui brachte ihm das warme weiße Fell und ein Stück vom ewigen Brot.

Am selben Abend noch hörte Tasamui ein Lachen in der Ferne. Es kam vom Meer her. Sie wusste den Weg durch die Felder.

 

 

 

 

 

Jim, der Peruaner

 

Der Schlaftrunk hatte uns Kinder dann doch alle schon so müde gemacht, dass wir schon halb schliefen. Mariela, meine kleine Schwester, war längst tief in ihren Träumen versunken. Das Ende der Geschichte musste ich ihr am nächsten Tag noch gleich vor dem Frühstück erzählen.

 

Großvater Jim war ein waschechter Peruaner. Im Alter von dreißig Jahren hatte er vor, nach Amerika auszuwandern. Seinen Namen für Amerika, Jim nämlich, hatte er sich schon zugelegt. Dann wurde nichts aus der Reise – aber den Namen Jim hatte Jim für immer weg. Statt in Amerika trieb er sich lange irgendwo in der großen Welt umher. Er kannte Asien und war in Wüsten dieser Erde gewesen. Auch bei den Ureinwohnern der Sahara. Von dort hatte Jim das Rezept für den Maiskuchen in die Anden mitgebracht. Und dort ist es heute ein Nationalgericht!  Tamales nennen wir es hier. Er ist mit Fleisch- oder Käsefüllung verfeinert und wird in ein Bananenblatt eingewickelt. Müsst ihr unbedingt mal probieren.

 

Großvater Jim hatte die Statur eines Riesen. Er war gut einen Kopf größer als der Vater meiner Freundin Louisa. Und der war schon groß. Jim konnte zwei verirrte Schafe auf einmal auf  den Schultern tragen. Und das stundenlang, wenn es sein musste. Und es musste oft sein, bei Sonne und bei Regen und Schnee. Schafe verirren sich oft bei uns in den Bergen. Sie fangen dann ganz laut an zu rufen, was ungefähr so klingt: Määääääh, Määäääh.  Das schreien sie dann, ohne aufzuhören. Wenn ihr, liebe Kinder, euch mal verirren solltet, könnt ihr das auch so machen. Es hilft ganz bestimmt.

 

Das Frühstück vor einem Besuch bei Jim war für uns immer wie ein kleines Fest. Mutter wusste, dass uns eine ganze Tagesreise bevorstand und wir entsprechend kräftig sein mussten. Seit mein großer Bruder Lorenzo  vierzehn war, kam Mutter auch nicht mehr mit zu Jim. Der Rücken tat ihr weh, sagte sie. Heute glaube ich, Mutter wollte uns einfach nicht stören bei unsren Ausflügen. Lorenzo war auch schon erwachsen. In unseren Augen und in Mutters Augen. Das Frühstück bestand in gebratenen Eiern, einer ordentlichen Portion Speck, unserm geliebten Ceviche, frischem Brot und selbst gemachter Butter. Dazu gab es Honig und Holundergelee. Lorenzo besprach mit Mutter den besten Weg. Einige  Stellen mussten immer gemieden werden, dort, wo es  Steinschlag gegeben hatte oder Überschwemmungen. Wilde Tiere, die uns gefährlich werden konnten, gab es bei uns in Peru nicht.

 

Sobald die Sonne aufgegangen war, pflückten wir noch einen großen Blumenstrauß für Mutter. Der sollte bis zu unserer Wiederkehr halten. Dann zogen wir Kinder los. Bis zur Baumgrenze begleitete uns noch der Esel. Lorenzo hatte die Säcke mit unserer  Wegzehrung an seine Satteltasche gehängt. Dann waren wir Kinder auf uns gestellt. Das Abenteuer mit Großvater Jim konnte beginnen.

Ich war zehn Jahre alt, als wir einmal im späten Herbst loszogen. Gerade war die Sonne aufgegangen und die großen Bäume leuchteten uns schon mit ihren goldenen Blättern. „Auf gehts“, rief Lorenzo. Mit von der Partie waren außer meinen Geschwistern Mariela, Juanito und  meinem kleinen Bruder Samuel noch der Nachbarsjunge Ricardo.

 

Ricardo hatte immer gute Laune, auch wenn es mal regnete oder wenn es brenzlig wurde. Er wusste immer Rat, wenn es galt, einen tiefen Bach zu überqueren oder einen schmalen Grad  zu überwinden. In seinem Rucksack befanden sich allerhand Schätze, um die wir Ricardo beneideten. Ein festes Seil von gut zehn Metern Länge, ein scharfes Klappmesser, allerhand Haken und eine kleine Flasche Jod, um Wunden desinfizieren zu können. Das tat dann zwar höllisch weh, wir durften Ricardo aber so doll kneifen, wie wir wollten. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, sagte er dann.

 

Unser Weg führte zunächst an die Waldgrenze unserer Alm. Dort sahen wir den Fuchs. Er lag in der Sonne und blinzelte mit den Augen. Von weitem konnte man sein hübsches Fell schon sehen. Weiter ging es durch die Lärchenwälder auf einem schmalen Schotterweg. Holzbrücken führten zunächst noch über die Bäche. Weiter droben, schon an der Baumgrenze, lagen nur dicke Kieselsteine im Wasser. Brücken gab es dort nicht mehr. Wollte man keine nassen Füße bekommen, musste man von Stein zu Stein springen. Bei der ersten Pause schnitze uns Ricardo jedem einen kräftigen Stock aus Weidenholz. „Drei Beine ist besser als zwei Beine“, meinte er.

 

 

 

 

 

Vorbei ging es dann an den Ausläufern des Gletschers. Die große Gamsherde war nicht zu sehen. Nur gelegentlich schaute ein Gamskopf vorsichtig hinter einem Stein zu uns herüber. Gämse sind sehr menschenscheu. Das Eis des Gletschers war glasklar und man konnte tief auf dem Grund die grauen Steine sehen. Millionen Jahre ist das Wasser hier alt, wusste Lorenzo.

 

Durch einen Einschnitt im Berg konnten wir an Nachmittag schon Jims Weiden sehen. Der Wolfshund Mirko war zu Besuch. Er bellte ganz laut und der Berg gab ihm ein zehnfaches Echo. So laut wie Mirko konnte kein Hund bellen. Jim hatte ihm wohl schon von unserer Anreise berichtet. Beim steilen Abstieg fassten wir alle an Ricardos Seil, in das er für jeden von uns eine Schlaufe eingeknotet hatte. Auf diese Art wandern wir Andenbewohner schon seit Jahrhunderten. Bald darauf konnten wir Jims Hütte erkennen und wir konnten es riechen: Jim hatte seinen kleinen Ofen angezündet. Es würde geräucherte Forellen geben.

 

Großvater Jim saß in der Abendsonne an der Hauswand und rauchte seine große Pfeife. Ihr ahnt es schon. Sarah war zu Besuch. „Kinder, das ist schön, dass ihr heile angekommen seid, und gewachsen seid ihr“, lachte Jim. Es gab zur Begrüßung Holundersaft mit Zitronenmelisse und Mirco leckte uns das Salz von den Armen. Jeder von uns hatte auch ein kleines Geschenk für Großvater dabei. Eine Zeichnung oder eine gepresste Blüte oder einen selbst bemalten Stein. Mirko war damit zufrieden, dass wir ihn ausgiebig streichelten. Wir wussten, vorne auf der Brust und hinter den Ohren mochte er das besonders gern. „Seid ihr hungrig“, fragte Jim. Die Frage war aber natürlich überflüssig. Tante Sarah servierte uns die Forellen. Mit geröstetem Knoblauch und getrockneten Wacholderbeeren und warmer Hirse. Hirsebrei werdet ihr bei euch gar nicht kennen. Er schmeckt ähnlich wie Griesbrei, nur etwas kräftiger. Bei uns kommt oft noch etwas Honig und Zimt hinzu. Probiert es mal aus. In der Stube wurde es nun gemütlich, während draußen ein leichtes Abendgewitter vorbeizog. Sarah holte warme Lamadecken vom Boden. Ein peruanisches Lama gibt jedes Jahr Haare für zwei Decken. Ein Alpaka ist ein kleiner Bruder des großen Lamas. Alpakas geben nur eine Decke im Jahr. Alpakawolle ist viel weicher als die von Lamas.

 

„Wollt ihr die  Geschichte vom blauen Kondor hören“, fragte Jim nach dem Essen. Jeder von uns bekam eine große Tasse Minzetee. Dann fing Großvater an zu erzählen.

 

 

 

Der blaue Kondor

 

So alt ich auch geworden bin, liebe Kinder, ich war ja auch selbst einmal ein Kind. Und über unser Dorf, damals wohnten wir noch am Tagapekifluss, flog immer ein großer blauer Kondor. Wir Kinder fragten uns, ob es einen schöneren Vogel gibt, ein schöneres Lebewesen, wenn der Kondor zum Abend das Dorf besuchte und in unendlicher Höhe seine Kreise zog. Ohne Flügelschlag.

 

 

Er kam immer allein, über alle Jahre, über unsere Kinderjahre. Die Alten wussten, wo er herkam, aus welchen Bergen er kam. Sie hoben schweigend einen Arm zum Himmel zum Gruß und wussten, dass er sie sah, dass er sie kannte. Dass er sie genauer sah, als sie ihn. Ihre Kleider kannte, ihre Tracht zum Fest.

 

Es geschah eines Frühjahres, dass der Kondor ausblieb. So sehr wir Ausschau hielten, der weite Himmel blieb leer. Wir Kinder spürten gleich, wie er uns fehlte, wie er trotz seiner Unnahbarkeit uns und dem Dorf fehlte. Auch mein Großvater war besorgt. Es musste etwas sein mit dem Kondor. „Er wird krank sein oder tot“, sagte Großvater.

 

Am nächsten Morgen zog er seine schwere Felljacke über, schnürte die Bergstiefel und warf den Leinenbeutel mit Käse, Brot und Wasser über die Schulter. „Wenn du mit willst, musst du dich beeilen“, rief er mir zu, als er meinen Blick gesehen hatte.

 

Zwei Tagesreisen waren es. Erst durchs breite Flusstal mit den kleinen weißen Steinen  und den wenigen großen, rund gespült von Ewigkeiten, mit den rindenlosen trockenen Baum-stämmen, den hölzernen Riesen. Dann zur Baumgrenze hin, an den windschiefen kleinen Kiefern vorbei, vorbei an den Kahlstellen, den flachen Bergrücken mit ihren Moosen und Flechten, den Steilwänden der Anden zu. Wege und Pfade lagen lang hinter uns. Doch Großvaters Tritt war sicher und ebenso sicher war das Wohin. Dann gegen Mittag des zweiten Tages ging es steil hinab auf eine Hochebene. Dann nochmals hinab zum Felsvorsprung, zum Lager. Dem Lager des Kondor.

 

Er war verwundet. An seinem Bauch war eine tiefe Wunde. „Seine Todeswunde“, sagte Großvater. Der Vogel hatte sich ganz aufgestellt. Die Flügel ausgebreitet, wie zu einer Drohung. Der König der Anden. Was Großvater aber wusste: Es war ein Gruß, es war sein Dank. Neben dem Kondor lag sein Junges. Matt, im Schlaf fast. Großvater strich dem Kondor über die Augen, dann über den Hals und wieder über die Augen, und er sprach zu ihm in einer fremden Sprache, einer hellen Kindersprache, einer Vogelssprache. Er berührte den Vogel mit seinem Haar, sein Haar legte er an des Vogels  Augen, an des Vogels Schnabel.

 

Eine lange Zeit verging, es waren ganze Minuten, oder eine ganze Stunde. Längst hatte der Kondor sich gelegt und Großvater lag bei ihm.

 

Nimm das Junge, sagte dann Großvater, sein Vater wird dir nichts tun. Großvater half, den jungen Kondor in meinen Beutel zu tun. Und der wurde dann fest verschnürt. „Steig jetzt wieder hinauf“, sagte Großvater, „Du wirst jetzt einen Kondor haben, wie ich damals“.

 

Nach einiger Zeit war Großvater nachgekommen, der Anstieg war ihm schwer gefallen. „Hast du den Kondor allein gelassen“, war meine Frage, „ist er jetzt allein?“ „Nein“, war die Antwort, „er fliegt  jetzt zu seinen Vätern.“ „Hast du ihn getötet?“ „Ja“, antwortete Großvater. „War es schwer?“  „Nein, es war sehr leicht.“ Und er legte seine Hand auf meinen Arm. Wir suchten uns eine Senke  mit vertrocknetem Gras und die Nacht kam

 

„Und“, fragten wir Jim, „ist der junge Kondor bei dir geblieben?“ „Meine ganze Kindheit über“, sagte Jim. „Als ich dann Peru verließ, um nach Asien zu gehen, hat meine Schwester ihn angenommen. Noch Jahre lang ist er übers Dorf gezogen. Jetzt wird er auch schon lange gestorben sein und im Vogelhimmel auf mich warten.“ „Kommst du denn nicht in den Menschenhimmel“, fragte Mariela. „Ich glaube, ich komme in den Vogelhimmel“, antwortet Großvater lachend. „Dann fliege ich über eure Köpfe und passe auf, dass ihr im Menschenhimmel auch artig seid. Aber nun rasch ins Bett mit euch, es war ein langer Tag.“

 

In der Nacht konnte ich zunächst nicht einschlafen. Auch unser Dorf  wurde öfters von einem Kondor besucht. Manchmal brachte er auch ein paar Freude mit. Dann flogen bis zu sechs Kondore mit ihren schwarzen Flügeln  über unsere Köpfe. Sie haben mächtige, über drei Meter gespannte Schwingen. Wenn sie tief fliegen, leuchten ihre Augen wie Bernstein. Sie haben einen schönen rotbraunen Kopf und einen weißen Kragen aus ganz weichen feinen Federn. Großvater sagt, sie ernähren sich von verendeten Tieren. Von dem, was die Wölfe und die Pumas  ihnen übrig lassen. Lebenden Tieren und Menschen tun sie nichts. Erst gegen Mitternacht schlief ich ein.

 

Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne. Wir halfen Großvater beim Ziegenmelken. Der Esel musste gestriegelt und

 

 gefüttert werden und das letzte Heu wartete darauf, eingeholt zu werden. Lorenzo und Ricardo machten derweil auf dem Hüttendach lose gegangene Schindeln wieder fest. Schnell war so ein Tag wieder um. Überall gab es ja etwas zu entdecken. Die Katze hatte noch einmal Junge bekommen und im Kaninchenstall war auch viel zu bestaunen. Mariela hatte mit dem Netz Schmetterlinge und Heuschrecken gefangen. Am Abend beim Tee sollte Jim uns wieder etwas erzählen. „Erzähl uns aus deiner Kindheit“, bat ich ihn. „Dann will ich euch von der Berglöwin erzählen“, sagte er und begann.

 

 

 

 

 

Die Berglöwin

 

Mein Großvater zog mich auf, sagte Jim.  Mutter war nach meiner Geburt trocken. So wurde ich zu meinem Großvater gegeben, der mir die  Milch seiner Ziegen gab. 

 

Seine Hütte lag in einer Talsenke auf flachem hellen Gestein, auf dem sich Moose und Flechten hielten mit kleinen blauen und weißen Blüten wenn der Sommer kam. Flache Kiefern und Lärchen wuchsen mit windgedrehten kniehohen Stämmen.

 

Im Sommer kamen Nachbarn auf die Hochebene, Felle und Honig zu holen und  getrockneten Fisch. Stunden vor ihrer Ankunft hörte man die Hunde, weiße Hütehunde mit langem Fell. Sie wurden geschoren wie die Schafe. Einmal im Jahr zogen die Gaukler, Akrobaten, Olivenverkäufer und Wahrsager mit ihren bunten Leiterwagen vorüber.

 

Großvater lehrte mich fischen und jagen und zeigte die essbaren Beeren. Die Wildtiere mochten seinen Geruch. Sie hatten keine Angst vor seinem Gewehr. Manchmal brachte er eine kranke Ziege oder eine verlassene Gams zum Stall. Wenn er kranke Tiere schoss mit Wunden und Knoten im Fleisch kam er mit dem  Fell und den Innereien und ließ das übrige den wilden Hunden und den Füchsen und dem Kondor.

 

Jingpotou blieb, wenn Großvater über Nacht jagte. Er war der größte Hund, den ich kannte. Mit grauem zottigem Fell, das von seinem mageren Körper hing. Ich schlief dann  in seiner Ecke dicht an seinem warmen Bauch. Sein Herz war laut.

 

Als ich sechs war nahm mich Großvater mit in die Berge, Jingpotou trabte etwas voran und wusste den Weg. An den Klippen über einem See war unser Lager. Ein Kondor flog  einsam seinen Kreis ohne Flügelschlag. Am zweiten Abend hatte Großvater die Berglöwin entdeckt. Ohne Deckung zu nehmen zog sie langsam über die Felsen und weiter über die weißen Kiesel zum Wasser, das in kleinen Wellen zum Strand lief. In den letzen Sonnenstrahlen schimmerte der See wie Gold. Die Löwin trank und ging  ein kurzes Stück im Wasser, ohne jedes Geräusch. Schon früher hatte mir Großvater die Geschichte von der Berglöwin erzählt:

 

Dort, wo der große Fluss in den Rogagua - See mündet, am Flussdelta, geriet sie als  junges Tier in ein Feuer. Die Steinmenschen hatten es gelegt. Es wäre  ein leichtes gewesen, zu entkommen, sie ließ sich jedoch aufhalten vom Kind einer Hexe. Das heißt, die Steinmenschen hatten seine Mutter für eine Hexe gehalten. Das Kind lag wie tot auf einer flachen Sandbank, umgeben vom Feuer. Die Löwin nahm es zwischen die Zähne und ging hinauf in den beißenden Rauch  über bekannte geschützte Pfade und baumfreie Wege. Indes wäre sie doch bald in den Flammen umgekommen. Sie rief die Göttinnen der Luft an, vergeblich. Sie rief den Gott der Steppe an, vergeblich. Mit letzter Kraft konnte sie sich mit verbranntem Fell aus dem Irrgarten des Feuers befreien. Auf einer Bergkuppe fiel sie erschöpft in tiefen Schlaf. Als sie  wieder erwachte, wusste sie nicht einmal, ob sie das Hexenkind auch hatte retten können.

 

Die Jahre vergingen. Das Fell der Berglöwin war wieder seidig geworden und ihre alte Kraft zurückgekehrt. Sie lebte in den Hochebenen des Andengebirges, südlichöstlich der großen Wälder. Eines Tages kam ein Schwarm Möwen vom fernen Delta herauf geflogen. Eine setzte sich zur Löwin und sprach: „Wir sind die Göttinnen der Luft, die Tauben, die du einst für Göttinnen hieltest, sind einfache Vögel. Am Delta haben die Steinmenschen wieder ein Feuer gemacht. Drei Hexenkinder sind auf einer Insel eingeschlossen. Wir wissen, dass du wieder kräftig bist  und die Kinder vielleicht retten kannst. Wir können nicht helfen.  Wir wissen auch, du kannst nicht so weit schwimmen. Aber sag den Goldbrassen, sie sollen dich stützen. Ruf dem  Kondor, er soll dich hinaufziehen, wenn du sinkst. Wir wissen, dass du Angst hast und können verstehen, wenn du nicht hinuntergehst zum Fluss. Es ist deine Entscheidung.“ Die Berglöwin antwortete nach einer Weile, aber die Möwe sprach: „Sage nichts, wir können es nicht verstehen, wir sind taub.“

 

„Wie geht es weiter“ hatte ich meinen Großvater ungeduldig gefragt. „Ich weiß es nicht“, war seine Antwort. „Manche erzählen es so, manche so. Wir wollen die Gaukler fragen nächstes Jahr.“ Wir fragten die Gaukler im nächsten Jahr. Aber auch sie wussten das Ende der Geschichte nicht. Aber das sei vielleicht auch nicht so wichtig – trösteten sie mich. Es sei ja nur ein Märchen.

 

„Ist es denn ein Märchen“, wollten wir von Jim wissen. „Ja, Kinder, es ist ein Märchen“, sagte Großvater. Aber wenn ihr so alt sein werdet, wie ich, dann wisst ihr vielleicht, dass es nur ein halbes Märchen ist. Alle Märchen sind nur halbe Märchen. Das meinte auch Tante Sarah, die sich zu uns gesetzt hatte. Sie hatte große dunkelblaue Augen, was bei uns in den Anden selten ist. Und trotz ihres hohen Alters hatte sie noch ihr langes schwarzes Haar. Jim hatte uns viel von  ihr erzählt. In ihrer Jugend waren alle Jungen im Dorf in sie verliebt gewesen. Es war nicht ihr Äußeres, was sie so anziehend machte. „Es war die Art, wie sie uns zuhörte“, sagte Jim. Sie hörte zu und man wusste, sie hatte verstanden. „Sie hielt immer zu mir“, sagte Großvater, „sie verstand mich nicht nur, sie half mir, wo sie konnte.“

 

„Weißt du auch ein halbes Märchen“, fragten wir Sarah. „Wollt ihr es wirklich hören“, frage sie.  „Es heißt: Die Insel im Fluss.“ Wir wollten.

 

 

 

Die Insel im Fluss

 

Es war einmal ein kleines Feenmädchen, das hatte langes blondes Haar. Es lebte in Transwahnien. Dort hieß es, ist das Leben ohne Ende, ein Leben also, ohne Ende. Es hatte eine Feenmutter und einen Feenvater. Sie lebten am großen Meer unter den großen Palmendächern und aßen angeschwemmte Muscheln und die Früchte der Bäume. Kalt wurde es ihnen nie, auch ohne warme Kleidung nicht.  Denn die Sonne und der warme Sand und der warme Wind waren übers ganze Jahr bei ihnen.

 

Eines Tages kamen Männer aus dem dunklen Wald. Sie trugen schwarze lange Umhänge und goldene Ketten und jeder hatte ein scharfes Schwert bei sich und sie sagten zur Feenmutter: „Dein Kind, es gehört uns. Es hat immer uns gehört und es war dir nur ausgeliehen. Gib es uns, sonst werfen wir euch alle drei ins Meer und ihr werdet eine Ewigkeit lang ertrinken“. Da weinte die Feenmutter und gab ihr einziges Kind den schwarzen Männern mit in den dunklen Wald.

 

 Sieben Jahre zogen die schwarzen Männer mit dem Kind im Wald umher. Sie hatten es an den Füssen gefesselt und gaben ihm nur Wasser zu trinken und bittere Blätter zu essen. Sie zwangen es, ihnen Feenlieder vorzusingen. Als das Kind groß wurde, war es ihnen zu mühsam, es mitzunehmen. Sie kannten eine Insel in einem schwarzen Fluss. Dorthin würden sie die Fee bringen. In einem alten Kahn setzten sie im Morgengrauen über. „Du wirst hier für immer bleiben“, sagten sie. „Und versuch nicht, hinüber in die Freiheit zu schwimmen. Das Wasser ist giftig und von heißem Schwefel und es wird dich dein Leben lang verbrennen.“

 

Auf der Insel war es zuerst kein schönes Leben, aber es war immer noch besser, als gefesselt mit den schwarzen Männern herumzuziehen. Nach langer Einsamkeit bemerkte unsere Fee, dass auch ein Berglöwe auf der Insel wohnte. Der Löwe war seit jeher dort und Fee und Löwe freundeten sich an. Sie lebten bald zusammen wie Eheleute. „Es ist wunderschön für mich, dass du jetzt hier bist“, sagte der Berglöwe ihr jeden Tag. Beide hatten nur schreckliche Angst vor dem schwarzen Wasser und mieden den weißen Strand wie sie nur konnten.

 

Später  bekamen sie ein Kind. Es hatte das  Seidenfell des Vaters und die zarten Glieder der Fee. Doch Vater und Mutter, die das Kind sehr liebten, hatten Sorge, es könne in den schwarzen Fluss laufen oder aus Versehen beim Spielen hineinfallen.  „Hüte dich vor dem schwarzen Wasser“, riefen sie dem Kind zu, sobald es nur in die Nähe vom Fluss kam.

 

Als das Kind größer wurde, bemerkten die Eltern mit Sorge, dass  es nicht anfangen wollte, zu sprechen. Auch lachte es nicht und hatte noch nie geweint. Es bestand nur aus Furcht und Angst. Das ging viele Jahre. Eines Tages kam ein großer Sturm auf und der Fluss erhob sich grimmig und die Wellen wurden höher und höher. Die Fee wurde vom Unwetter im Schlaf überrascht. Als sie versuchte, dem giftigen Wasser zu entfliehen, wurde sie im laufen von einer großen Welle überschwemmt. An einem Büschel Strandgras konnte sie sich jedoch gerade noch festhalten. So wurde sie  nicht mit in die Fluten gerissen.

 

Als der Sturm vorbei war, stellte sie mit Grauen fest, dass das giftige Wasser sie ganz durchnässt hatte. Aber: Es brannte nicht auf ihrer Haut wie Schwefelfeuer, nicht so, wie es die schwarzen Männer früher gesagt hatten. Es war ein ganz warmes, mildes, freundliches Wasser. wie das  Meereswasser, das sie  von früher aus ihrer Kindheit kannte.

 

Von diesem Tag an war eine große Last von der Fee und dem Berglöwen genommen. Auch hatten sie  die Sorge um das Kind bald aufgegeben, dass es in den Fluss fallen und auf ewig darin brennen würde. Sie nahmen es mit an den weißen Strand und badeten und schwammen jeden Tag im warmen Wasser im Fluss. Wenn sie es wollten, nahm der Fluss sie auf eine warme Welle und trug sie zum Land, wo sie bald Freunde fanden unter den Tieren und den Feen. Wenn die Sonne untergegangen war und die drei ihr Nachtlager unter den Palmen der Insel richteten, war es allen leichter. Und Vater und Mutter dachten bei sich: Unser  Kind wird  mit des Flusses Hilfe vielleicht auch noch gesund werden. Es wird erst weinen und dann wird es lachen und dann wird es auch zu sprechen anfangen.

 

Und auch der schwarze Fluss musste weinen, weil er nach so vielen Jahren endlich wieder geliebt wurde und nicht mehr gefürchtet werden musste.

 

„Sarah“, fragten wir Kinder, „was ist die Wahrheit oder die halbe Wahrheit an diesem Märchen?“ Sarah sah uns stumm und traurig an. „Nun“, sagte Großvater Jim, „Sarahs zweite Tochter ist auch so ein Kind gewesen, dass plötzlich nicht mehr sprach und nie mehr  lachen konnte und nie mehr weinte.“ „Gibt es einen Grund für ihr Schweigen, Großvater“, fragte Lorenzo. „Du wirst es verstehen, Lorenzo“, sagte Jim. „Ich will es euch allen erklären, Kinder: Sarahs Kind Lea ging in die neue Missionsschule in Tumupasa. Zu den schwarzen Predigern. Sie hörte dort von einem Gericht, einem Gericht, wo entschieden werden soll, wo man als Menschenkind hin kommt. Nach seinem Leben hin kommt. Ob in den ewigen Himmel oder in eine ewige Hölle. Irgendwie war das Kind überzeugt davon, in so eine ewige Hölle zu müssen.“ „Hast du mit den Predigern gesprochen“, wollte Lorenzo wissen. „Ja“, sagte Sarah. „Jim hat mit ihnen geredet. Aber sie wollen weiter über diese Hölle predigen, die sie selbst erfunden haben. Und Gott ist darüber genauso traurig, wie der schwarze Fluss traurig  war.“

 

Wir alle hatten schon von den neuen Predigern aus Übersee gehört und wir alle konnten auch Sarah  und besonders Lea nun verstehen. Das Kind, das nie mehr ein Wort hatte sprechen können.

 

Und Sarah: Sie lächelte plötzlich. Alle ihre Traurigkeit war verflogen. „Wo ist deine Lea jetzt“, fragten wir sie. „Jims blauer Kondor hat sie auf seinen Flügeln mit in seinen Himmel genommen. Alles ist gut geworden, Kinder“, war ihre Antwort. Auch unsere Angst, auch unser Schrecken war damit verschwunden. Bald würden wir wieder in unseren Betten in der kleinen  Hütte liegen und träumen. Von Wolfshund Mirco, von Lea, von den Berglöwen, von den Möwen, vom Esel, vom Lama, von der Insel im Fluss, von Schmetterlingen  und - von Großvater Jim.