Sacco mit Fahrrad

 

Schlingensief – ein Mensch und seine Religion in der "Moderne"                                     von Frank Sacco

 

  

Vorwort Müller: Vor seiner Diagnose Krebs fühlte sich Schlingensief „im Kern“ geschützt und „von Gottes Gnaden behütet“. Als ihn die Krankheit trifft,  ist das Verhältnis „zu Gott und zu Jesus zerrüttet“. Er wird „realistischer“ als früher und durchschaut die Heilsversprechungen der Kirchen  als „so mies und so dreckig und so billig“. Über Nacht wird er ein „ganz anderer Mensch“. 

 

So schreibt Frank Sacco, Doktor der Medizin, über Christoph Schlingensief, und er verfasst sogar Gedichte dazu .

 

 

Schlingensief – ein Mensch und seine Religion in der Moderne  von Frank Sacco

 

 

Christoph Schlingensief hat uns 2010 verlassen. Er verstarb, Jahrgang 1960,  an einem Lungenkrebsleiden. Und er verfasst über die Zeit seiner Erkrankung ein Buch: „So schön wie hier kann es im Himmel nicht sein.“

Die Religionen sind zurück. Und mit ihnen das Mittelalter. Als ausstellender Künstler bei der Biennale in Venedig formte er eine überdimensionale Kirche und unterstreicht damit den  heutigen großen Stellenwert dieser Institution. Er stellt ein in der Kirche gefesseltes Kind aus.

Vor seiner Diagnose Krebs fühlte sich Schlingensief „im Kern“ geschützt und „von Gottes Gnaden behütet“. Als ihn die Krankheit trifft,  ist das Verhältnis „zu Gott und zu Jesus zerrüttet“. Er wird „realistischer“ als früher und durchschaut die Heilsversprechungen der Kirchen  als „so mies und so dreckig und so billig“. Über Nacht wird er ein „ganz anderer Mensch“. 

Religion hat ihren Ursprung in dem Gefühl der Schutzlosigkeit angesichts der übermächtigen Natur. Brauchte man früher Schutz vor wilden Tieren, so ist es heute der Schutz vor einer vernichtenden Diagnose und der Schutz vor einem qualvollen Sterben. Wie kein anderes Lebewesen sieht der Mensch ja dieses sein Leiden voraus. Er kann quasi in die Zukunft sehen und sieht „so nahe“ in den Medien Patienten, die sich vor, im oder hinter dem Krankheits-Stadium befinden, in dem er sich selbst gerade befindet. Ein metastasiertes Lungenkarzinom endet in aller Regel relativ rasch tödlich. So braucht der Mensch der Moderne heute leider wieder umso mehr einen Gott, umso mehr den Gedanken an einen Schutz von oben. 

 

Krank

 

Das Gewächs in deinem Bauch        

schmerzlos                                        

nur die Schwäche                              

Du suchst die Hoffnung                     

Die Schwester schließt die Tür           

Die Zeit des Wissens                          

sie nennen es Kampf                          

ist ohne Sieg                                        

Eisen schnürt dir den Hals                    

Fremdes weißes Bett                            

Es soll verkapseln, sagen sie,                                       

Ein gutes Essen, das nicht schmeckt

Es ist der Tropf

sagt der Arzt

Du nickst und gehst

Rosen hat sie gebracht

Hilflose Worte

Manchmal wie Traum

Erwachen oder leben

oder einfach das Nichts

 

 

Ingeborg

 

Roter Stein

letzter Flug

ins Nichts

und so schwer

für Dich

Harter Stahl

an Deiner Stirn

letzter Freund

und Feind

für Dich

Verdammte Angst

zu erwachen

und zu leiden

bittrer Trank

für Dich

Letzter Weg

und keine Hand

in Deinem Haar

und kein Wort

für Dich.

 

Der todkranke Mensch im Mittelalter nahm täglich etwas ab. Eines Morgens war er dann tot. Der Heutige ist über alle grausamen Eventualitäten seiner Erkrankung schon vor ihrem Auftreten informiert. Dies ist der Fluch der modernen Wissenschaft und der heutigen Medien. Ohne den  Trost einer aktiven Sterbehilfe wird man nicht auskommen. Denn man merkt „nach der Diagnose“ rasch, ein Gott, ein beschützender Gott, fehlt. Er fehlt ab dem Bekanntwerden einer infausten Diagnose. Er bestimmt nicht den Zeitpunkt des Endes. Nicht er schaltet den Strom ab.

 

Das Schema

 

Überlassene Hoffnung, ausgeliehen

bist nicht umsonst

Dornenbrot, anderes gab man Dir nicht

verlorenes Lachen

nahmst ein Elend für das andere

Sterben im Takt des Schemas

Kontrollgang ans Ende

Neonflure tauschtest

gegen den weiten Wind

Hattest nicht einmal die Wahl

trafst ihn nicht der sagte

geht nur, trink den Wein ohne Hast

und wenn Du müde bist dann kommt.

 

Inge

 

Letztes Lächeln letzter Blick

dachten an die Zeit zurück

wo du fragtest nach dem Leid

in deiner allerletzten Zeit

Dass er leicht werde

der Weg von dieser Erde.

Und ich gab dir diesen Trank

Deine Hand zur Seite sank.

 

Aus der Distanz eines von seiner Religion Enttäuschten sieht Schlingensief klarer: „Das Gottprinzip ist im Lauf der Jahrhunderte zu einem Prinzip der Schuld und des Leidens verkommen. Warum ist das Gottprinzip kein Freudenprinzip?“ Stattdessen quält man als Kirche noch den Erkrankten mit falschen Dogmen. Schlingensief:  „Da hat sich also Gott für ihn eine Prüfung ausgedacht. Oder: Aha, der hat wohl Schuld auf sich geladen…“. So quält Religion doppelt und dreifach: Sie bietet nicht den versprochenen Schutz und interpretiert das Leiden als Prüfung oder gar als göttliche Strafe. 

 

Die Themen Glaube und Religion beschäftigen die Allgemeinheit  zurzeit „sehr stark“, so die Kuratorin des Deutschen Pavillons in Venedig, Frau Susanne Gaensheimer, in der Zeitung „Die Welt“ vom 6. Juni 2011. Christoph Schlingensiefs Werk „Kirche der Angst“ beeindruckte die Jury und das Publikum. Schlingensief wollte, so heißt es,  „die Idee von einem strafenden Gott zerstören“, und konnte „doch nicht von seinem Glauben lassen“. Begeisterung und Euphorie löste sein Werk aus, das letztlich „ins Blasphemische“ abgleite, so Gaensheimer. Hier stellt sich mir die Frage, wer blasphemisch ist. Ich meine, es sind die Kirchen, die ihren Herrgott auf eine Stufe mit den bekannten irdischen Despoten stellen und ihm Dinge wie Folter, auch ewige, auch mittels Feuer unterstellen. Und das vor wehrlosen Kindern und vor einem wehrlosen, seinen Kirchen ausgelieferten, stummen  Gott. Es gibt also nicht den Bad Boy Schlingensief, es gibt das Bad Girl Kirche. 

Auch in diesem Jahr (2017) steht der deutsche Pavillon in Venedig wieder unter dem Motto Angst. Anna Imhof richtet ihn aus. Wieder wird die transzendentale Angst nicht zu kurz kommen. Künstler haben die Gabe, den Status quo einer Gesellschaft zu beschreiben, wo das Kollektiv den eigenen  Zustand vorwiegend verdrängt. Ob aber der Künstler sein Zeitgeschehen auch analytisch-kritisch behandeln und beschreiben kann, das ist die große Frage. So bleibt eine Frage an den Künstler in der Art: „Was wollen Sie damit ausdrücken“, oft unbeantwortet.